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Niklas LIEST: Systemische Entzündung, "Sickness Behavior" und Erwartungsprozesse (2021) bei Schmerz

Aktualisiert: 4. Juni 2023

"Welche Rolle spielen Erwartungen bei entzündungsassoziierten Symptomen?" (z. B. bei Schmerz?)

Dieser Frage widmen sich Schmidt, Reinold, Klinger & Benson in der Fachzeitschrift Der Schmerz, veröffentlicht am 29. Oktober 2021. Hier der Link zum Artikel: https://www.springermedizin.de/psychotherapie/schmerzen-bei-neurologischen-erkrankungen/systemische-entzuendung-sickness-behavior-und-erwartungsprozesse/19811502?fulltextView=true

Diesen versuche ich im Folgenden zusammenzufassen und zu vereinfachen. Alle Kennzeichnungen zu "wörtlicher Rede" entstammen direkt dem verlinkten Artikel.


Die folgende Zusammenfassung soll erst einmal als Einführung in das Thema der Verbindungen zwischen Entzündung, Immunsystem, Psyche, Schmerz und Verhalten dienen. Eventuell führe ich das Thema in den nächsten Blogeinträgen noch weiter aus.


Immunsystem, Psyche und Schmerz


Immunsystem und zentrales Nervensystem (ZNS [Gehirn und Rückenmark]), wozu auch die Psyche zählt, tauschen ständig Informationen miteinander aus. Das ZNS kann die Aktivität des Immunsystems an Umweltbedingungen (z. B. Kälte), physiologische Stressoren ( bspw. körperliche Belastung oder Hunger) oder psychologische Stressoren (z. B. Stress oder Schlafmangel) anpassen.


Andersherum kann auch das Immunsystem auf das Gehirn einwirken, z. B. im Falle eines akuten Infekts oder bei einer entzündlichen Erkrankung (z. B. Sonnenbrand oder eine Verletzung).

Durch diese Rückmeldung seitens des Immunsystems ans Gehirn wird dann das Verhalten an die Krankheitssituation angepasst, also bspw. Schonung und erhöhte Schmerzsensitivität, damit mehr Energie für die Heilung zur Verfügung steht und die verletzte Körperstelle nicht noch stärker verletzt wird.


Beim sog. "Sickness Behavior" ("Krankheitsverhalten") treten verschiedene körperliche und psychische Symptome auf, woran jeder selbst schon einmal am eigenen Leibe die Verbindungen zwischen Immunantwort (z. B. auf Viren, Bakterien oder eine Impfung), Psyche, Schmerz und Verhalten erleben konnte. Hierbei sind vor allem eine erhöhte Schmerzsensitivität (ich reagiere bei gleicher Schmerzintensität schneller mit "Aua" als wenn ich fit bin), Dysthymie (depressive Verstimmung) und Ängstlichkeit, Fatigue (müde, Erschöpfungszustand), Veränderungen von Schlaf und Appetit sowie leichte kognitive Beeinträchtigungen zu nennen.


WIE funktioniert diese Kommunikation zwischen Immunsystem und Gehirn?

--> über Immunbotenstoffe, wie z. B. die pro-inflammatorischen Zytokine TNF-α oder Interleukin(IL)-6, worauf in diesem Post allerdings nicht weiter eingegangen wird (seid gespannt auf die nächsten). Pro-inflammatorisch bedeutet übrigens sowas wie "entzündungsfördernd" (pro - für; Inflammation - Entzündung).


Wir können also nachvollziehen, dass die akuten Antwortreaktionen, welche durch das Wechselspiel zwischen Immunsystem und ZNS entstehen, als durchaus sinnvoll und zweckmäßig für den Heilungsprozess angesehen werden können, da sie uns gewissermaßen ausbremsen.


Schwierig wird es bei chronischen Entzündungsprozessen, denn dort werden langfristig die körperliche sowie psychische Funktionsfähigkeit und auch die gesundheitsbezogene Lebensqualität beeinträchtigt (Schmidt et al., 2021).

 

Schmerz im Rahmen des "Sickness Syndrome"


Die bereits genannten Immunbotenstoffe aktivieren lokal sog. Nozizeptoren (Schmerzrezeptoren) und sensitivieren desweiteren die Schmerzwahrnehmung im ZNS.


Erforscht wird die Verbindung zwischen Immunsystem, Entzündungsprozessen und Schmerzwahrnehmung z. B., indem ein bakterielles Endotoxin in niedrigen Dosierungen intravenös injiziert wird. Dies führt in einem Zeitraum von 1-4 Stunden zur Freisetzung proinflammatorischer Zytokine. Dabei entwickeln die Testpersonen grippeähnliche Krankheitssymptome, inkl. einer negativen Stimmungslage.


Dabei wurde festgestellt, dass es zu einer Abnahme der Druckschmerzschwellen in unterschiedlichen Muskelgruppen kommt, v. a. zum Zeitpunkt erhöhter Zytokinspiegel im Blut.


AKUT: Immunantwort --> Entzündung ↑ ↑ (↑) --> sensiblere Schmerzwahrnehmung ↑↑ (↑)

CHRONISCH: chronische Entzündungen im Körper <--> chronische Schmerzerkrankung


Diese Zusammenhänge sind jetzt stark vereinfacht. Chronische Entzündungen im Körper sind nicht der einzige Faktor, sondern einer unter vielen, der zu einer chronischen Schmerzerkrankung beitragen kann.


Allerdings wirkt die Immunantwort mit der Entzündungsreaktion auch auf die Psyche. "Schlechte Laune" (negative, depressionsähnliche Stimmung) oder Ängstlichkeit können auftreten.


Schmidt et al. (2021) schreiben hierzu: "Vor dem Hintergrund der engen und reziproken (wechselseitigen) Verbindung von Schmerz und negativen Emotionen stellt sich die Frage, inwieweit eine veränderte Schmerzsensitivität während einer systemischen Entzündungsreaktion durch negative Emotionen (mit) verursacht wird."

AKUT: Immunantwort --> Entzündung ↑ ↑ (↑) --> negative Stimmungslage ↑↑ (↑)

CHRONISCH: chronische Entzündungen im Körper <--> chronische Schmerzerkrankung <--> komorbide affektive Störung


Der Anstieg der proinflammatorischen Zytokine ist also nicht die einzige Variable, die die (chronische) Schmerzerkrankung beeinflussen kann, sondern die negative Stimmung kann die chronischen Schmerzen ebenfalls "befeuern".


 

Erwartungen und Symptome


Sowohl positive als auch negative Erwartungen können die Wahrnehmung und Bewertung von Symptomen, aber auch die Effekte therapeutischer oder medikamentöser Behandlung beeinflussen.


Beispielsweise könnte eine negative Erwartung zu stärkerer Symptomausprägung oder stärkeren Nebenwirkungen führen (Nocebo-Effekt).

Die Autoren berichten von einer Studie, bei der 20% der Personen, welche sich in der Kontrollgruppe befanden und somit nur eine wirkstofffreie Kochsalzlösung bekamen, angaben, Endotoxin erhalten zu haben. Sie entwickelten "mehr und stärker ausgeprägte Sickness-Symptome als diejenigen, welche sich selbst korrekt der Kontrollgruppe zuordneten" (Schmidt et al., 2021).


Der bekanntere Placebo-Effekt hingegen bei positiver Behandlungserwartung kann bspw. zu "einer signifikant höheren Reduktion von experimentell erzeugtem Juckreiz und Quaddeln [führen] als eine verdeckte (das heißt für die Patient:innen unwissentlich verabreichte) Infusion." Ein anderes Beispiel - Höhenkopfschmerz: "So hatten diejenigen Testpersonen, die einen starken Höhenkopfschmerz erwarteten, nach dem Aufstieg auf 3500m über dem Meeresspiegel in der Tat eine höhere Kopfschmerzinzidenz und Schmerzbelastung [...]. Erhielten die Testpersonen eine wirkstofffreie Placebotablette, nahmen Kopfschmerzen ab."


 

Zusammenfassung und praktische Hinweise


  • "Entzündungsprozesse gehen mit körperlichen und psychischen Krankheitssymptomen einher, darunter Schmerz und affektbezogene Symptome." (affektbezogen = die Stimmung betreffend).

  • die Effekte beruhen auf der Wirkung von Immunbotenstoffen (proinflammatorische Zytokine) auf das ZNS, was zusätzlich ein Schonverhalten auslösen kann.

  • Bei akuten Verletzungen sind dies sinnvolle Maßnahmen. Bei chronischen Entzündungsprozessen dagegen können diese schmerz-, affekt- und verhaltensbezogenen Symptome jedoch zu Einschränkungen der Lebensqualität und in einen Teufelskreis der Inaktivität führen.

  • Positive und negative Erwartungen (Placebo- bzw. Nocebo-Effekte) haben "nachweislich einen Einfluss auf Schmerz und affektbezogene Symptome."

  • Chronische Entzündungsprozesse sind beeinflussbar durch: (Fehl-)Ernährung, Bewegung vs. Inaktivität, Stress vs. Entspannung, Schlaf(mangel), Lichtquellen (z. B. ([Nah]Infra)Rotlicht) uvm.

In diesem Sinne bleibt gesund und entzündungsfrei!







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